Ein Stück Sprechen

7.4.2025 / blog / Vaterzunge
Vaterzunge Vaterzunge © Lisa Edi

Das Land Tirol ist ein Land voller Buckel. Die Buckel der Berge zum Beispiel oder die Buckel der Pisten. Nicht zu vergessen die Buckel der Sprache mit ihren kehligen Krachlauten, jedes K ein Höcker, jedes R eine harte Rundung, nach außen gewölbt, konvexe Krümmung, Wirbelsäulenverkrümmung der Worte.

Vaterland und Muttersprache (vormals auch «Vaterzunge» genannt), darum geht es in Miriam Unterthiners Sprech-Stück. Und um Buckel natürlich.

Die Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit, die Begebenheit hat sich vor langerlanger Zeit zugetragen, irgendwo an einem abgelegenen Ort in einer buckligen Landschaft. Die Geschichte geht so: Ein Kind wird geboren. Der Vater freut sich, das Kind ist ein Sohn. Die Mutter freut sich, das Kind ist ein Sohn. Die Freude währt nicht lange, der Sohn stirbt. Ein neuer Sohn wird geboren … oder nein, oje, das neue Kind ist ein Mädchen, ein Mädele, ein Moidle, ein Es. (Grammatik der Muttersprache/Vaterzunge: das Mädchen – sächlich, nicht weiblich.)

VATERZUNGE, f. sprache des vaters, heimatsprache: dialectus

BOCKEL, m. buckel: hocker oder bockel, die last, so man auf dem rücken träget

Das Es gibt bei seiner Geburt keinen Laut von sich, keinen Schrei. Ganz stumm kommt es aus der Mutter heraus, reißt nur die Augen auf, als könnten die Augen schreien, wenn’s schon der Mund nicht kann oder die Zunge, die Tochterzunge. Töchter schreien nicht, das machen nur die Söhne. Das dürfen nur die Söhne. Also bleibt das Moidle stumm, lernt auch nicht richtig sprechen, während es heranwächst, lernt die Muttersprache nicht, von wem auch, die Mutter ist dem Sohn ins Grab gefolgt, so groß war ihre Sehnsucht nach dem Erstgeborenen. Der Vater zieht das Moidle alleine auf. Gibt ihm Essen, Bettchen, Kleidung, Windeln, und einen Namen gibt er ihm auch. Maria. Schöner Name. Katholischer Name, tirolischer Name. Steht aber nur im Taufregister, wird nicht verwendet fürs Moidle, schon gar nicht vom Vater.

Und so wächst es namenlos heran, kann den eigenen Namen auch nicht sagen, stammelt nur MMA ... AMMI … RR …, bekommt vom Vater Essen, Kleidung, Arbeit, Schläge – und einen Buckel.

Der Buckel des Mädchens Maria ist in Miriam Unterthiners Sprech-Stück eine Krankheit und eine Metapher. Die Krankheit heißt Morbus Scheuermann, umgangssprachlich «Witwenbuckel» genannt, eine Deformation der oberen Wirbelsäule, oft verursacht durch das Tragen schwerer Lasten. Die Metapher verweist auf ein knüppelhartes Machtsystem: Vom Vatermann gewaltsam nach unten gedrückt, bildet die Tochterfrau einen Höcker aus, genau dort, wo der Mensch anatomisch am breitesten ist, also die größte Angriffsfläche bietet: am Rücken. Die bucklige Maria wird vom Vater in ein hölzernes Korsett gesteckt, das er selbst gezimmert hat. So soll gerade werden, was verkrümmt wurde. Eine Art Wiedergutmachung vielleicht, kann sein, vielleicht aber auch der Versuch, das sichtbare Zeichen der Gewalt unsichtbar zu machen. Und da, schau an, passiert etwas, mit dem niemand gerechnet hat: Der Buckel verformt das Korsett statt das Korsett den Buckel! Der Buckel will sich nicht geradebiegen lassen, der Buckel wehrt sich gegen diese erneute gewaltsame Zurichtung, und mit ihm wehrt sich die junge Frau, auf der er sitzt. NEIN, sagt Maria. (Ups, sie kann sprechen!) MARIA ICH, sagt Maria. (Ups, sie ist wer! Ist ein Ich, kein Es, hat einen Namen, kann ihn sagen!)

Va†erzunge erzählt eine alte Geschichte, die immer wieder neu ist und nicht oft genug erzählt werden kann: die Geschichte von Widerstand und Befreiung.