Die gefährliche Milde

Greta Maria Lindmayr (Die junge Vitellia), William Blake (Vitellius) © Birgit Gufler

Mozarts La clemenza di Tito ist eine faszinierend moderne Parabel auf Macht und Machtverzicht und die Einsamkeit des Herrschenden. Die Regisseurin und Ausstatterin Mirella Weingarten und der Musikalische Leiter Gerrit Prießnitz beleuchten im Gespräch Figuren, Hintergründe und Formen dieses psychologisch brisanten Spätwerks.

In wenigen Worten: Worum geht es in Mozarts «La clemenza di Tito»?

Mirella Weingarten Um Freundschaft und Vertrauen. Außerdem um ein Verständnis von Macht oder genauer gesagt um die Ohnmacht der Macht. Der Herrscher Tito verzichtet dreimal auf die Liebe, entweder zugunsten des Volkes oder der Freundschaft. Verschwörungen, Intrigen und Vertrauensbruch erträgt er bis zum letzten Moment, akzeptiert, verzeiht. Seine Gnade und Milde wirken als allmächtige Geste. Der Gegenpol dazu ist Vitellia, die als Kind erlebt hat, wie ihr Vater durch Titos Machtübernahme vom Thron gestoßen wurde. Ihre großen Gefühle von Rachsucht und Kränkung lassen sie zur Intrigantin werden. Dazwischen steht Sesto, Titos Freund, der Vitellia über alles liebt und zum Werkzeug ihrer Rache wird. In einem ständigen Gewissenskonflikt kämpft er mit sich selbst. Er ist klug genug, Vitellia zu durchschauen. Seine Hingabe ist aber so groß, dass er sich gegen sich selbst und für sie entscheidet.

Gerrit Prießnitz Es gibt wahrscheinlich keine einzige Oper, in der es nicht in irgendeiner Form um Liebe ginge – so auch hier. Aber interessanterweise hat man mit der von Mirella beschriebenen Konstellation im Kern des Stückes eine Fragestellung, die kein so üblicher Topos ist. Im Grunde geht es um Macht, um Grenzen der Macht, die Sinnhaftigkeit der Macht und darum, dass der Verzicht auf eine einmal gegebene Macht die Dinge nicht zwingend besser macht – ein quasi machiavellistischer Gedanke.

Mirella Weingarten © privat

«Das ist in meinen Augen ein musikalisches Wunderwerk.»

Es ist Mozarts (vor-)letzte Oper, parallel zur «Zauberflöte» komponiert. Aber völlig anders. Was kann man zu Form und Struktur dieses Stückes sagen?

Gerrit Prießnitz Mozart hat sein ganzes Leben parallel an sehr verschiedenen Stücken, Genres und auch Ausdrucksformen gearbeitet. Hier wird dies besonders deutlich, weil es an seinem Lebensende stattfindet, und natürlich spielt auch die enorme Popularität der Zauberflöte in diese Kontrastwahrnehmung mit hinein. Außerdem wird die Gegensätzlichkeit in diesem Fall durch das jeweilige Genre der beiden Opern augenfällig: Mit der Singspielform der Zauberflöte prägt Mozart etwas historisch Neues, während die Form der Opera seria, die Tito
zugrunde liegt, zum Entstehungszeitpunkt eigentlich bereits abgeschlossen war. Man schrieb zu dieser Zeit keine solchen Opern mehr. Ich nenne Tito deswegen auch gerne die «allerletzte Barockoper».

Was genau macht die Opera seria aus – und warum wählt Mozart sie für seinen «Tito»?

Gerrit Prießnitz Im Grunde ist es eine Form, die Mozart selbst mit Idomeneo zu einer letzten Blüte und zum Abschluss gebracht hatte. Wenn er diese formal stark abgezirkelte, streng nach vorgegebenen Mustern ablaufende Form wählt, dann ist das in diesem Fall ein bewusster Schritt. Er zitiert quasi ein historisch gewordenes Genre mit seinen klaren Regeln, um den Inhalt der Oper mit ihren strukturellen Fragen von Macht und Machtstaatlichkeit zu unterstreichen. Die Konflikte der Figuren haben Modellcharakter – also ist auch die formale Anlage des Stückes ein Modell. Insofern ist Tito ein echtes Spätwerk: sowohl für Mozart persönlich, als auch epochal. Man steht hier bereits über der historisch gewordenen Form und kann souverän mit ihr spielen.

Gerrit Prießnitz © Palásti Projekt Portraits

«Es bleibt eine sehr strukturierte Musik, die aber alles andere als farblos ist.»

Sind auch die Figuren Zitate oder Modelle?

Mirella Weingarten Einerseits sind sie das: Wir haben es mit Figuren zu tun, die an Persönlichkeiten aus der römischen Geschichte orientiert sind, also mit realen Menschen, die kurz nach Christi gelebt haben. Ihre Konflikte miteinander und mit sich selbst aber sind durchaus ins Heute zu übertragen und durch und durch menschlich, was eine sehr psychologische Personenführung zulässt. Stark an dieser Oper ist, dass in allen Duetten, Terzetten, Quintetten usw. die Figuren stets extreme, tiefe, aber komplett gegensätzliche Emotionen haben. Das ist in meinen Augen ein musikalisches Wunderwerk.

Gerrit Prießnitz Es gibt in dieser Oper drei ganz extreme Accompagnato-Rezitative, die Mozart für Tito, Sesto und Vitellia geschrieben hat. In diesen bricht er aus der kompakteren Welt der Opera seria aus und wählt auch harmonisch Extreme. Hier wird er mindestens so persönlich wie in den Accompagnati in Don Giovanni oder Così fan tutte. Durch den starken Kontrast werden diese Momente wirklich aufwühlend.

Es gibt in dieser Produktion eine dazuerfundene Figur: das Gewissen. Wie ist sie in die Szene einbezogen? Warum gibt es sie?

Mirella Weingarten Das Gewissen ist ein physischer Zustand, der auf allen lastet, bei jedem auf eine andere Art und Weise. Tito trägt es von seiner Machtergreifung an mit sich. Sesto wird davon überkommen, sobald er begreift, dass er Schuld auf sich lädt und seine Freundschaft zu Tito verrät. Musikalisch ist das ausgezeichnet komponiert: In seiner Arie Parto, Parto hält er eine Zwiesprache mit sich selbst – charakterisiert durch eine Klarinettenstimme, die mit der Gesangsstimme «disputiert». Auch Vitellia, überwältigt von dem Schaden, den sie angerichtet hat, hat im Bassetthorn solch ein Gegenüber. Das personifizierte Gewissen steht für mich schon in der Partitur.

Was war euch ästhetisch wichtig?

Mirella Weingarten Es ist eine abgeschlossene, hermetische Welt, dieses Reich Titos. Sie muss nicht zeitlich definiert sein. Auch wenn die Kostüme ganz entfernt die Antike zitieren, sind sie daher trotzdem eine Mischung aus Heutigem, Altem und Abstraktem. Für die Raum-gestaltung war mir wichtig, dass die Darsteller:innen rein physisch herausgefordert sind. Es ist ein Raum mit Höhenunterschieden, keinen Geraden, immer steht man auf einer zunehmenden Schräge. Ein Raum also, in dem die Darsteller:innen schwingen, gehen, fallen und rutschen und oft wieder dort landen, wo sie begonnen
haben.

Regisseurin Mirella Weingarten bei der Konzeptionsprobe zu La clemenza di Tito © Andrea Widauer

Gerrit Prießnitz Musikalisch ist mir wichtig, in den vielen Arien und den Ensembles eine sehr feine Art des Singens und Musizierens zu zeigen, um der Struktur und dem Anspruch, der Abgeklärtheit dieses Werkes gerecht zu werden. Dem gegenüber stehen die extrem subjektiven Accompagnati – wobei solche Momente auch in den Arien gegeben sind. Diese beiden Ausdrucksformen muss man geschickt ineinander verschränken. Es bleibt eine sehr strukturierte Musik, die aber alles andere als farblos ist. Über alledem steht für mich – gerade auch in den Secco-Rezitativen mit Hammerklavier – die Klarheit der jeweiligen Aussage, also die Notwendigkeit, dass die Sänger:innen an jeder Stelle genau wissen, was sie sagen, warum und zu wem. Das ermöglicht dann wiederum eine große Freiheit, auch im Zusammenspiel mit der Szene. Wenn etwa Gesten oder Gänge hinzukommen, kann eine Pause an einer anderen Stelle sein, als man sie im Notentext gesehen hat. Alles, was die Klarheit der Haltung unterstreicht und das Spiel lebendig werden lässt. Das finden wir gerade in den Proben heraus.

Mirella Weingarten Diese Arbeit mit dem Ensemble ist fantastisch. Alle sind aufeinander eingespielt und können so die Feinheiten dieser nuancierten Gefühlsturbulenzen herausarbeiten. Die Bühne ist eine Herausforderung, ich weiß das. Da ist es ein Vergnügen zu sehen, mit wie  viel Bewegungsfreude sie diese Herausforderung annehmen. Das gilt auch für den großartigen Chor: Was für eine Spielfreude! Da hat man als Regisseurin bei den Proben oft eine Gänsehaut.