Zwischen Teppichen und Pionier-Hütchen

   Blogbeitrag

Die Bühne der Kammerspiele des Tiroler Landestheaters strahlt derzeit einen besonderen Retro-Charme aus: eine alte gelbe Telefonzelle, eine transportierbare ARAL-Leuchtreklame sowie eine Holzvitrine mit einem winzigen 80er-Jahre-Fernsehgerät und gerahmten Fotos von Staatsoberhäuptern der ehemaligen Republik Jugoslawien. Und Teppiche – viele Teppiche!

Sie bedecken den Boden und hängen von einem Gerüst im Hintergrund, an dem ein fünfzackiger Stern als sozialistisch-kommunistisches Wahrzeichen prangt. Dazu gesellen sich massenhaft Tabletts mit Früchten, Wurst und Käse für’s Picknick im bosnischen Hügelland, genauer gesagt auf dem Dorffriedhof – man weiß schließlich nie, wie viele noch zum Essen vorbeikommen!

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Hier spielt derzeit das Schauspiel Herkunft. In der gleichnamigen Romanvorlage erzählt der aus Bosnien-Herzegowina stammende Autor Saša Stanišić seine Geschichte. Wie er 1992 mit 14 Jahren vor dem Krieg in seiner Heimat fliehen musste, zum Beispiel – seither ist Deutschland seine (weitere) Heimat, er wohnt heute mit seiner Familie in Hamburg. Der Begriff «Herkunft» ist für ihn zum komplizierten, mehrdeutigen Gebilde geworden. 

Fluch versus Privileg

Herkunft – für die einen klar einzuordnen, eindeutig bestimmbar und somit nicht zu hinterfragen. Für andere ist die Beschreibung, woher sie kommen oder wo ihre Heimat ist, eine Herausforderung, die untrennbar mit unterschiedlichen Zugehörigkeiten, Prägungen und Orten verbunden ist – oder, um es mit Stanišićs Worten im Roman zu sagen:

«Worauf zielt das Woher?
Auf die geografische Lage des Hügels,
auf dem sich der Kreißsaal befand?
Auf die Landesgrenzen des Staates zum Zeitpunkt der letzten Wehe?
Provenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt?»

Saša Stanišić, Autor

«Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. Als solches ein Fluch! Oder, mit etwas Glück, ein Vermögen, das keinem Talent sich verdankt, aber Vorteile und Privilegien schafft.»

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Stanišić erzählt eindringlich, direkt und mit subtilem Humor. Die Umsetzung für die Bühne entsteht in der Regie von Jasmina Hadžiahmetović, die Musik steuert die Akkordeonistin Merima Ključo bei. Die Kammerspiele verwandeln sich in der Ausstattung von Jan Freese zu einem Mikrokosmos aus verschiedenen Schauplätzen vom Balkan bis nach Deutschland. Zwischen Teppichen, Pionierhütchen und winkenden Staatsoberhäuptern in Bilderrahmen erwecken die Spieler:innen die pointierten Erzählungen und beschriebenen Welten von Saša Stanišić zum Leben.

TEXT Stefan Späti
BILD Birgit Gufler

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HERKUNFT

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